Was sie so gefährlich macht, ist nicht nur ihre Macht, sondern auch ihre Täuschung. Die Sirenen erscheinen ihren Opfern zunächst als überirdisch schöne Gestalten. Wesen von atemberaubender Eleganz, mit leuchtender, makelloser Haut, langen, fließenden Haaren, klaren Augen und sanften Zügen. Ihre Stimmen klingen wie süße, melancholische Gesänge, die direkt ins Herz dringen, Sehnsucht wecken, Trost versprechen. Diese Erscheinung ist kein Zufall. Die Sirenen erschaffen Illusionen aus Licht, Klang und Sehnsüchten. Wer sie sieht, glaubt, einem Engel des Meeres zu begegnen.
Doch je näher man ihnen kommt, desto mehr beginnt das Bild zu zerfallen. Die Haut wird schuppig, das Haar beginnt zu treiben wie Seegras in fauligem Wasser, und das schöne Gesicht verzerrt sich. Langsam, quälend. Zu einer Fratze aus Wahnsinn und Hunger. Große, perlmuttfarbene Augen ohne Pupillen liegen dann tief in knöchernen Augenhöhlen. Der Mund, eben noch lächelnd, klappt auf wie das Maul eines Tiefsee-Ungeheuers, gesäumt von mehreren Reihen nadelartiger Zähne. Die Stimme verwandelt sich in ein Flüstern, das durch Mark und Bein geht. Ein Laut, der keine Gnade kennt. Die Stimme einer Sirene ist ihr gefährlichstes Werkzeug. Ihr Gesang ist kein Gesang im herkömmlichen Sinn. Es ist ein durchdringender Laut aus mehreren überlagerten Tonlagen, mal flüsternd, mal ohrenbetäubend hoch, der sich in das Bewusstsein der Zuhörenden schleicht und dort eine täuschend süße Melodie hinterlässt. Wer sie hört, ist verloren, zieht sich selbst ins Wasser – bereit, zu sterben.
Sirenen leben meist in Schwärmen. Sie umkreisen Schiffswracks oder halb versunkene Hochhäuser, nutzen ihre Umgebung, um sich im Wasser zu tarnen, und schlagen mit grausamer Präzision zu. Ihre Bewegungen sind ruckartig, fast unnatürlich, als würde eine fremde Kraft ihre Glieder bewegen. Und doch wirken sie im Wasser nahezu unaufhaltsam, jede Strömung gehorcht ihrem Willen, jede Welle trägt ihre Jagd.
Einige Berichte sprechen von „Wasserschatten“ – Menschen, die einst von einer Sirene verschont wurden, nur um mit einem Kuss versiegelt zu werden. Sie kehren verändert zurück. Die Haut blass, die Stimme verstummt, die Augen grau wie Treibholz. Diese Schattenwesen dienen den Sirenem blind, treiben für sie Menschen in die Tiefe und bringen Opfergaben in ihre Reviere.